Geopolitische Risiken 2023 – Die strategischen Konsequenzen für CEOs und Aufsichtsräte

Geostrategische Risiken haben immer größere Auswirkungen auf Unternehmen

 

Es herrscht Krieg auf europäischem Boden, und in der Ukraine wird die westliche Demokratie verteidigt – der russische Präsident hat wiederholt deutlich gemacht, dass sein Krieg auch ein Krieg gegen den Westen insgesamt ist. Dies ist die brutale Realität, an der Entscheidungsträger und Meinungsbildner in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ihr Handeln in 2023 ausrichten müssen. Wir befinden uns zudem in einer Polykrise der Globalisierung, in der sich ökonomische, energiewirtschaftliche, gesundheitliche und klima-ökologische Krisen in ihren negativen Folgen wechselseitig verstärken. Es hat im vergangenen Jahr auch positive Überraschungen gegeben, wie das unerwartete Scheitern des russischen Vormarschs auf Kiew, den Rückgang der Pandemie (außer in China), den Zusammenhalt der NATO, die Stärke der US-Führung oder die relative Einheit der EU. Dennoch: Geopolitische Risikoanalysen und Vorausschau sind mehr denn je Pflichtaufgabe für Vorstände und Aufsichtsräte, weil globale Risiken noch nie so große Auswirkungen auf Märkte, Lieferketten und Geschäftsmodelle hatten wie heute. Die folgenden Punkte verdeutlichen dies.

 

Rogue Russia – ein in die Ecke gedrängtes Russland wird immer aggressiver

Putins Russland sieht sich im Dauerkonflikt mit dem Westen und verfolgt diesem gegenüber eine destruktive Agenda. Eine erneute tiefe und langfristige Zweiteilung Europas und die Herausbildung von Zweckallianzen Russlands mit Schurkenstaaten wie Iran und Nordkorea sind wahrscheinlich. In der Ukraine ist mit einer weiteren Eskalation zu rechnen, mit brutalen Bombardements, weiterer Terrorisierung der ukrainischen Bevölkerung, Zerstörung der Infrastruktur, und womöglich einem neuen Großangriff. Selbst der Einsatz taktischer Nuklearwaffen als Ultima Ratio ist nicht völlig auszuschließen. Die Destabilisierung umliegender Länder (westlicher Balkan, Moldau) bleibt eine jederzeit auszuspielende Karte. Mit zunehmenden Waffenlieferungen werden NATO-Staaten wahrscheinlichere Ziele russischer hybrider oder asymmetrischer Kriegsführung. Mit Manipulationen von Wahlen, weiteren z.B. durch Hunger ausgelösten Flüchtlingsströmen und Angriffen auf Pipeline-, Kabel- oder IT-Netze ist zu rechnen. Ebenso sind russisch initiierte oder auch tolerierte Terroranschläge in Europa oder in Drittstaaten gegen europäische Interessen auf dem Warnradar der Nachrichtendienste.

  • Für Unternehmenslenker bedeutet dies: Rechnen Sie nicht mit einem „back to normal“ – auch nicht auf lange Zeit. Stellen Sie sich auf weitere Sanktionen, Unterbrechungen von Lieferketten und Preisschocks, ebenso auf Cyberangriffe und Wirtschaftsspionage ein.

 

Die Energiekrise hält an

Bereits vor dem Ukraine-Krieg stand der globale Energiemarkt aufgrund von niedrigen Investitionen in fossile Energieträger vor strukturell höheren Preisen (Commodity Supercycle).  Russlands Invasion und die Ölsanktionen bzw. Gasembargos haben zu der größten Energiekrise seit den 70er Jahren geführt. Im kommenden Jahr wird Russland mit voraussichtlich nur ca. 20bcm 85% weniger Erdgas via Pipelines nach Europa liefern als 2021. Bei weiterer militärischer Eskalation im Ukrainekonflikt zulasten Russlands steigt das Risiko weiterer Supply-Disruptionen (siehe oben). Insbesondere vor dem Hintergrund wieder steigender chinesischer Erdgas Nachfrage wird der globale LNG-Markt diesen Verlust russischer Lieferungen nicht kompensieren können.  Auch der Ölmarkt wird mit dem Inkrafttreten der EU-Sanktionen gegen Russland und steigender Nachfrage aus China im Laufe des Jahres voraussichtlich enger werden. So schnell es bisher ging, die radikale Umorientierung von Öl und Gas aus Russland auf neue Lieferanten und Energiequellen vorzunehmen: gerade Deutschland wird für eine nachhaltige Neuausrichtung seiner Energiepolitik noch erheblich an Zeit benötigen.

  • Eine dauerhafte Fortsetzung der Entspannung bei Preisen für Öl und Gas ist nicht zu erwarten. Der Winter 2023/24 wird entscheidend. Der massive Import von LNG – vor allem aus den USA – wird 2023 unverzichtbar. Die Debatte um eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken ist noch nicht zu Ende. Mittelfristig steht Europa vor einer grundlegenden Veränderung seiner Energiebeziehungen, die neue Kostenstrukturen und veränderte Infrastrukturanforderungen mit sich bringt. Neue Nukleartechnologien – vor allem Kernfusion – haben nach Jahrzehnten des Stillstands technologische Durchbrüche erzielt und könnten in den frühen 2030er Jahren einsatzbereit sein. Entsprechend sind jetzt Investitionen zu prüfen.

 

Decoupling – Die Rivalität China vs. USA wird zunehmen

China wird autoritärer, nationalistischer, ausgreifender. In Washington ist für Demokraten wie Republikaner der Machtkampf mit China strategisches Thema Nr. 1. Zwischen Washington und Peking stehen die Zeichen auf sektorielles decoupling und, -Autarkiestreben in strategischen Sektoren. Dies gilt insbesondere für Hochtechnologiesektoren wie Halbleiter und ihre Vorprodukte. Peking verfolgt das Ziel getrennter Wirtschaftskreisläufe nach innen und nach außen. Weltweit sind ein partieller Rückbau der Globalisierung hin zu konkurrierenden Regionalräumen und die Spaltung des Internets („Splinternet“) in Gang.

  • Global integrierte Lieferketten sind insbesondere im Hochtechnologiebereich zunehmenden Sanktions- und Exportrestriktionsrisiken ausgesetzt. Ein strategisches sanctionsproofing der eigenen Wertschöpfungskette ist erforderlich. Entkoppelung und Autarkiebestreben bringen höhere Kosten / Redundanzen und das Risiko von Angebotsknappheiten. Firmen müssen Resilienzen in ihre Wertschöpfungskette einbauen und Alternativen zu China stärker in den Blick nehmen (Stresstest). Bei kritischen Rohstoffen ist es jetzt an der Zeit, Lieferanten aus anderen Ländern zu suchen.

 

Schurkenstaat Iran – neuer Krisenherd in Nahen Osten?

Teherans Waffenbrüderschaft mit Russland, zunehmende interne Repressionen und Hinrichtungen von politischen Gegnern, vor allem aber eine wahrscheinliche Wiederaufnahme der Produktion hochangereicherten Urans werden unweigerlich zu massiven Spannungen mit den USA und der neuen Rechtsaußenregierung in Israel führen. Ein (erneuter) Angriff auf die iranische Uranproduktion ist nur eine Frage der Zeit, denn Israel wird das Überschreiten der nuklearen Schwelle durch Teheran niemals hinnehmen. Iran würde hierauf mit Gewalt und Terror in der Region (Libanon, Syrien, Irak), hier gegebenenfalls auch gegen Schifffahrtswege, Öl-/Gasförder- und Verarbeitungsstrukturen sowie gegen westliche Interessen, reagieren. Im schlimmsten Falle einer regionalen Eskalation wären neue Energie-Lieferbeziehungen Deutschlands in der gesamten Region betroffen.

  • Da Deutschland und seine Industrie die Diversifizierung seiner Energiequellen weiter vorantreibt, wird es zu einem verstärkten wirtschaftlichen Engagement in Nah-/Mittelost kommen. Angesichts wachsender Konfliktgefahr in der Region sind dabei sorgfältige regionale Analyse und große Umsicht geboten. Je unwahrscheinlicher ein Atomabkommen wird, desto länger bleibt der Iran nicht investierbar. Da auch die Golf-Anrainer in eine Krise hereingezogen würden, könnte ein Konflikt im Nahen Osten zu einer Re-Evaluierung der Investitionsstrategien wichtiger Akteure auf den internationalen Finanzmärkten wie Saudi-Arabien, Katar, Abu Dhabi und deren Staatsfonds – die teilweise erhebliche Beteiligung in der deutschen Industrie halten – führen. Hier sollten vor allem DAX-Konzerne ihre Exposition zu diesen Akteuren überprüfen.

 

Das globale Rezessionsrisiko bleibt

Die Polykrise bringt Angebotsschocks mit sich und führt zu Preissprüngen unter anderem bei Energie-, Dünge- und Nahrungsmitteln. Zentralbanken in Europa werden 2023 zunehmend vor das Dilemma gestellt werden, mit restriktiverer Zinspolitik europäisches Wirtschaftswachstum zu ersticken. Auch verhalten sich im Kontext von Gaspreisbremsen in Europa Geld- und Fiskalpolitik zunehmend gegenläufig. Die Zinsschritte der Fed und der EZB sowie die Dollarstärke haben im vergangenen Jahr insbesondere emerging markets unter erheblichen finanziellen Druck gebracht.

  • Angebotsschocks bringen ein komplexeres Finanzierungsumfeld mit höheren Kosten für die europäischen Firmen mit sich. Länder und Märkte sollten unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Akkumulation von Risiken, die sich aus ganz unterschiedlichen Aspekten der Polykrise speisen, analysiert werden. Besonderes Augenmerk sollte den Sekundäreffekten des Ukrainekriegs gelten. Zu diesen zählen ökologische Katastrophen, politische und sicherheitspolitische Faktoren sowie Nahrungsmittelsicherheit.

 

Verschuldungsrisiken nehmen weiter zu

Gegenüber 2022 haben sich globale Finanzrisiken zunächst zurückgebildet. Treiber sind ein geringeres Rezessionsrisiko in den USA, die Bewältigung der Energiekrise für diesen Winter in Europa, ein verbesserter Wachstumsausblick für China und global aufgrund des China-Reopening, sowie ein angesichts der Inflation rückläufiger Verschuldungsdruck in Emerging Markets außer China. Der starke Jahresauftakt an den Finanzmärkten sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Effekte hoher Staats- und Gesamtverschuldung in weiten Teilen der Welt sowie Fehleinschätzungen von Zentralbankpolitiken zu disruptiven Entwicklungen führen und rezessive Faktoren in der Weltwirtschaft wieder verstärken können.

  • In den USA hat Finanzministerin Yellen die Debt Issuance Suspension Period („DISP“) erklärt, und das amerikanische Primärdefizit wird über die kommenden Jahre weiter steigen. Während die US-Treasury bis voraussichtlich Ende des 3. Quartals hinreichende Liquidität wird generieren können, wird die kompromisslose Oppositionsstrategie der Republikaner die US-Regierung zunehmend unter Druck setzen. In China wird die Gesamtverschuldung weiter deutlich ansteigen, und trotz der Stabilisierung der Immobilienmärkte muss mit weiteren Schuldenrestrukturierungen von Local Government Financing Vehicles („LGFV“)  gerechnet werden. In der Eurozone besteht für das laufende Jahr eine große Emissions-Pipeline von Staatsanleihen. Das Auslaufen der sog. „Escape Clause” (von den Regeln des Fiskalpaktes) im Jahr 2024 und die für die meisten Marktteilnehmer unerwartet restriktive Geldpolitik der EZB wird die Regierungen der Mitgliedsländer zunehmend dazu zwingen, sich den Realitäten von Rekordverschuldung und schrumpfendem fiskalischen Spielraum zu stellen. Die Bewertungen an den Finanzmärkten schließlich sind nicht nur für weitere geopolitische Schocks anfällig – in den USA könnte sich auch die Annahme, dass die Fed bereits im 4. Quartal mit einer Reduzierung ihrer Policy Rates beginnen wird, als folgenschwere Fehleinschätzung erweisen.

 

Neue Industriepolitik bietet Chancen

Die Biden Administration hat sich mit dem Chips Act, dem Bipartisan Infrastructure Bill und dem Inflation Reduction Act das Ziel gesetzt, im geoökonomischen Wettbewerb den Industriestandort Amerika mit erheblichen finanziellen Mitteln zu fördern. Eine Strategie, die die Volksrepublik auf ganz eigene Art schon seit längerem verfolgt. Die EU plant bereits ein europäisches Gegenstück zum amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA). Weitere Industriepolitische Initiativen insbesondere für Technologie- und Net-Zero Unternehmen sind erwartbar.

  • Prüfen Sie neue Förderprogramme und analysieren Sie Chancen für neue Kooperationen mit Regierungen / der öffentlichen Hand, um neue Projekte zu entwickeln. Der richtige Zeitpunkt für eine entsprechende strategische Positionierung ist jetzt.

 

BGA analysiert für Vorstände, Aufsichtsräte und Management Teams die Konsequenzen dieser und anderer geopolitischen Dynamiken im Hinblick auf Geschäftsfelder, Lieferketten und Investitionen. Unser Team begleitet Sie bei sich daraus ergebenen strategischen Anpassungs- und Entscheidungsprozessen, insbesondere beim Aus- und Aufbau von Partnerschaften mit Regierungen und öffentlichen Institutionen. Zudem unterstützen wir Sie beim Aufbau bzw. Konsolidierung robuster „Governance“-Strukturen und effektiver Kommunikation gegenüber Stakeholdern und Investoren.

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