Geopolitik muss auch beim Mittelstand Teil der Unternehmensstrategie werden: Interview mit Jan Kallmorgen und Kathrin Suder

Jan Kallmorgen, CEO und Founding Partner von Berlin Global Advisors, sprach mit markets international über sein gemeinsam mit Kathrin Suder geschriebenes Buch: “Das Geopolitische Risiko. Unternehmen in der neuen Weltordnung“  und geopolitische Risiken für Unternehmen:

Markets International: Frau Suder und Herr Kallmorgen, in Ihrem Buch „Das Geopolitische Risiko. Unternehmen in der neuen Weltordnung“ fordern Sie, dass Wirtschaftslenker sich verstärkt mit politischen Risiken auseinandersetzen müssen. Was ist denn heute anders als vor zehn oder zwanzig Jahren?

Kallmorgen: Nachdem die 1990er Jahre geprägt waren vom Siegeszug der Demokratien, Globalisierung und „Pax Americana“, sehen wir seit Beginn der 2000er Jahre eine Serie von Ereignissen, die disruptiv auf dieses westlich dominierte Politik- und Wirtschaftsmodell wirkten: Der 11. September 2001, die Kriege im Irak und Afghanistan, die globale Finanzkrise von 2008 bis 2012, Russlands zunehmende Autokratisierung mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 – ein Vorläufer des jetzigen Krieges –, Stärkung von Autokraten in Ländern wie der Türkei, den Philippinen oder Brasilien, die Flüchtlingskrise von 2015 oder der Brexit.

Die Systemrivalität zwischen den USA und China haben Sie da noch gar nicht erwähnt.

Kallmorgen: Ja. Die beiden entscheidenden Faktoren liegen in den USA und China: Zum einen die Wahl Donald Trumps 2016, die zu einer nationalistischeren US-Außenpolitik führte. Für vier Jahre waren die USA nicht mehr der globale Stabilitätsanker. Zum anderen strebt China unter Xi Jinping danach, zur führenden wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Macht zu werden. Was wiederum zu einer Gegenreaktion des Westens geführt hat. Zwischen den USA und zunehmend auch Europa auf der einen Seite und China auf der anderen Seite erwächst eine Konfrontationsstellung. Diese Konfrontation hat vier Ebenen: eine politische Ebene – Demokratie gegen Autokratie; eine wirtschaftliche Ebene – etwa die Handelskriege unter Trump gegen China; eine militärische Ebene – siehe Südchinesisches Meer; und eine technologische Ebene.

Suder: Neben dieser klassischen geopolitischen Dimension, nimmt die Wichtigkeit der Themen Environment, Social, Governance, kurz ESG, und Technologie für Firmen zu. Klimaschutz und erhöhte gesellschaftliche Verantwortung spielen eine immer größere Rolle für die Wirtschaft. Technologie wird zunehmend als wirtschaftspolitische Waffe eingesetzt. Eine der zentralen Thesen unseres Buches ist: Es reicht nicht, sich auf eines dieser drei Themen zu fokussieren, sondern sie müssen im Kontext gedacht und miteinander verbunden werden, weil sie politisch miteinander verbunden sind: ESG wird verbunden mit Handelsauflagen, Technologie ist verbunden mit Sanktionen, die Themen sind verzahnt und müssen auch so angegangen werden. Das ist das Neue.

Diese Verzahnung von Technologie, Geopolitik und ESG ist ja sehr eindrücklich zu beobachten, seit Russland die Ukraine angreift. Die USA und die EU reagierten mit scharfen Sanktionen. Besonders schmerzhaft für Russlands Industrie ist das Importverbot von Halbleitern und Hightech – Stichwort Technologiepolitik. Aus Reputationsgründen ziehen sich viele Unternehmen freiwillig aus Russland zurück. Ukrainische Aktivist:innen blockieren die Autobahnen von Polen nach Belarus, um ein komplettes Wirtschaftsembargo gegen Russland zu fordern – Stichwort ESG.

Suder: Ja. Ich glaube, durch die Ukraine sind die Zusammenhänge, die wir beschreiben, jetzt von vielen – sehr schmerzhaft – verstanden worden. Vorher war das nicht so. Deshalb haben wir das Buch geschrieben.

Zeigt der Krieg nochmal, wie dringend der Handlungsbedarf ist?

Suder: Seit dem Ukrainekrieg gibt es eine echte Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die demokratische Welt und eine autokratische Achse um Russland und China wirtschaftlich komplett voneinander abkoppeln. Die deutsche Wirtschaft muss sich auf solche Szenarien in den nächsten drei bis fünf Jahren vorbereiten und Alternativen haben, wenn es dazu kommen sollte.

Das Umdenken, das sie fordern, scheint vielen Unternehmen schwer zu fallen. Warum ist das so?

Kallmorgen: Wirtschaftslenker in Deutschland haben mit Globalisierung und starkem Effizienzfokus zwei Generationen von mehr oder weniger gutem Wachstum gesehen. Trotz der oben beschriebenen Störungen wuchs die Weltwirtschaft ja weiter und die Globalisierungswelle rollte. Diese Form des Wirtschaftens aber ist vorbei. Je früher die Unternehmen aufwachen, je proaktiver sie sind, umso mehr können sie neue Märkte erschließen und neue Lösungen auf den Markt bringen – auch um Wohlstand und Sicherheit in Deutschland zu wahren.

In Ihrem Buch führen sie eine Menge Beispiele dafür an, wie Unternehmen konkret mit diesen Herausforderungen zu kämpfen haben. In den Beispielen geht es aber vor allem um große sichtbare Unternehmen wie H&M, VW oder börsennotierte Unternehmen. Was ist mit kleineren Unternehmen? Sind die etwa nicht betroffen?

Suder: Doch, definitiv. Allerdings haben Mittelständler, unsere wichtigen Hidden Champions, wie zum Beispiel Zulieferer in der Automobilindustrie, schon immer nach dem Prinzip agiert: follow your customer. Das heißt, sie machen dann oft das, was Conti macht, was Bosch macht, was die Großen machen. Umgekehrt werden mittlere Unternehmen jedoch ein noch härteres Erwachen haben, denn für sie ist es sehr viel schwieriger umzusteuern und zu diversifizieren als für die Großen. 

Es geht auch noch kleiner. Zum Teil gibt es spezialisierte Unternehmen mit 50 Mitarbeitern, die weltweit aktiv sind und dabei keinesfalls nur Siemens, VW oder SAP hinterherlaufen, sondern eigenständig agieren. Unsere Erfahrung bei GTAI ist, dass die auch in schwierigen Märkten wissen, wie sie ihr Geschäft absichern können. Aber weitere Informationen über die Länder, in denen sie arbeiten, haben sie quasi gar nicht. Wie können sich solche Unternehmen wappnen?

Kallmorgen: Bei 50 Mitarbeitern haben Sie natürlich wenig Kapazitäten, alle Vierteljahre eine Risiko-Map für die wichtigsten fünf Absatzmärkte zu erstellen, wie es die DAX-Konzerne machen. Sie haben mehr das konkrete Tagesgeschäft im Auge und reagieren kurzfristig auf Krisen, die ganz konkret ihr Geschäft betreffen. Eine Möglichkeit, sich regelmäßiges Risikomapping zu beschaffen ist es, Geopolitische-Risiken-Tools, Ratings oder Rankings einzukaufen. Da diese jedoch nicht auf das jeweilige Unternehmen zugeschnitten sind, braucht man dann dazu einen oder zwei zuständige Personen im Managementteam oder Vorstand, um aus diesen Analysen Konsequenzen für das eigene Geschäft zu ziehen. Ansonsten empfehlen wir, sich außerhalb von Krisenzeiten regelmäßig auf das eigene Unternehmen zugeschnittene Briefings und Beratung einzukaufen.

Wie oft genau?

Kallmorgen: Alle drei oder sechs Monate.

Selbst, wenn die Ressourcen dafür so knapp sind?

Kallmorgen: Man wird in dieser neuen Weltlage als Unternehmen einfach nicht darum herumkommen, eine individuelle Risikoexpositionsanalyse vorzunehmen. Sie haben ja auch einen Steuerberater und Sie haben eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, auch wenn Sie nur 50 oder 100 Leute sind. Eigentlich müsste eine politische Risikoanalyse zu einer ähnlichen Pflicht werden, wie der Jahresabschluss, egal ob das jetzt ein sehr exponierter Markt wie Russland oder ob es der südostasiatische Raum ist. Anwälte weisen zurecht darauf hin, dass Vorstände in Haftung genommen werden können, wenn sie keine sorgfältige Risiko Due Dilligence vornehmen – und dies wird zunehmend für politische Risiken gelten.

Suder: Es empfiehlt sich für Unternehmen zudem, sich mit anderen zusammenzuschließen und gemeinsam Informationen einzuholen. Das Thema also über die eigenen Firmengrenzen hinwegdenken. Da können dann auch Institutionen wie Sie oder Verbände unterstützen.

Eine weitere zentrale Herausforderung für die Zukunft sehen Sie darin, dass sich der deutsche Maschinenbau besser mit der Tech-Industrie verbindet. Warum ist das so schwer?

Suder: Beide Disziplinen sind total unterschiedlich. Ingenieure denken in Punktlandungen. Sie wollen in fünf Jahren ein Produkt entwickeln und können ihre Hardware nicht ständig wegschmeißen. Software-Entwicklung dagegen denkt in agilen Vorgehensweisen. Es wird ausprobiert, ein Programm gelöscht und neu gemacht. So geht alles damit los, dass die Maschinenbauer erstmal akzeptieren, dass Software anders ist. Es erfordert einen Change-Prozess in Unternehmen, es muss gemeinschaftlich an Problemlösungen gearbeitet werden. Hardware und Software müssen zusammenkommen. Es braucht gemeinsame Entwicklungsprozesse und ein Verständnis füreinander. Am Handwerk selbst scheitert es meiner Meinung nach nicht. Jedoch gehen die wenigen Software-Leute in großen Hardware-basierten Unternehmen oft unter. Das macht es nicht attraktiver, dort zu arbeiten. Dann gehen die halt lieber zu Amazon oder zu Tesla.

Kann man diese Änderungen wirtschaftspolitisch irgendwie forcieren?

Suder: Eine Umfrage unter Chief Information Officers hat gezeigt, dass viele Unternehmen mehr als 80 Prozent ihrer Daten nicht ein einziges Mal nutzen. Ich glaube, hier kann der Staat helfen, indem er Modellprojekte fördert und Rahmenbedingungen setzt. Zukünftig werden immer mehr Innovationsprozesse datengetrieben sein. Bislang war es ja so, dass sehr viel Innovation von Menschen kam, die einfach gute Ideen hatten. Künftig wird immer mehr von Daten kommen. Auch können wir mit Daten viel ressourcenschonender arbeiten, weil weniger verschwendet wird. Diese Potenziale zu heben, ist auch Aufgabe der Politik.

Klicken Sie hier, um auf die Homepage des Buches zu gelangen