Interview mit Eberhard Sandschneider zu den Xinjiang Police Files, China und den unterschiedlichen Interessen Amerikas und Europas

Eberhard Sandschneider zählt zu den profiliertesten China- und Geopolitikexperten Deutschlands. In einem Interview mit Cicero warnt er vor allem vor Träumen einer transatlantischen Renaissance, vor allem vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Interessen Amerikas und Europas. Für Professor Sandschneider liegt der eigentliche Konflikt des 21. Jahrhunderts in Asien.

Herr Sandschneider, in den letzten Tagen sind mit den sogenannten Xinjiang Police Files Dokumente aufgetaucht, die die extremen Menschenrechtsverletzungen Chinas gegenüber den Uiguren dokumentieren. Ein Verbund aus 14 internationalen Medienpartnern – in Deutschland vornehmlich der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung sowie NDR und WDR – hat angebliche Beweise für chinesische Umerziehungslager gesichtet, in denen bis zu einer Millionen Uiguren interniert sein sollen. Für wie authentisch halten Sie die Dokumente?

Ich denke, dass die Journalisten in alle Richtungen recherchiert und geprüft haben, ob die Bilder, Redemitschriften und Dokumente echt sind. Es gibt also keinen Grund, an der Authentizität der Xinjiang Police Files zu zweifeln. Wenn man sich andere Internierungslager in Autokratien anschaut, dann sind die Bilder aus Xinjiang auch nicht wirklich verwunderlich. Und dennoch ist es natürlich bedrückend, wenn man dann die Originaldokumente lesen kann und mit den Bildern konfrontiert wird.

Sie sind ausgewiesener China-Kenner. Haben Sie die gigantischen Datenmengen überrascht? Steckt darin eine neue Erkenntnis?

Neu im nachrichtlichen Sinne nicht. Neu ist nur, dass man jetzt Belege hat – auch gegen die Behauptung vonseiten der chinesischen Regierung, dass es sich bei den Lagern lediglich um Trainingslager handele und dass deren Insassen zu Zwecken der Weiterbildung freiwillig vor Ort seien. Solche Behauptungen hat es ja immer wieder gegeben. Sie sind grotesk und offensichtlich gelogen. Das kann man nun schwarz auf weiß belegen. Die Tatsache aber, dass es diese Lager gibt, ist wirklich nicht neu.

Der Mittelsmann zu den Medien war ein deutscher Anthropologe namens Adrian Zenz. Ist der zuvor schon in Erscheinung getreten?

Ja, Zenz ist seit Jahren schon darauf spezialisiert, China wegen der Situation in Xinjiang an den Pranger zu stellen. In langwierigen Recherchen und durch Extrapolation von Daten hat er versucht, die Größe der Lager und somit letztlich die Zahl der Insassen herauszufinden.

Laut Zenz sollen es eine Million sein.

Ja, diese Zahl geistert seither durch die Medien – und das natürlich auch, weil es eine so schön glatte Zahl ist. In einigen Bereichen findet sie dankbare Abnehmer. Belastbar indes ist sie mit Sicherheit nicht. Zenz hat sie aus chinesischen Ausschreibungen für Betonpfähle und Stacheldrahtrollen extrapoliert und daraus Rückschlüsse gezogen, wie viele Menschen in ein solches Lager passen könnten. Wir kennen die exakten Zahlen nicht. Wir müssen aber bedauerlicherweise davon ausgehen, dass sie tatsächlich hoch sind.

Finden Sie es nicht auffällig, dass all diese Daten genau zu jenem Zeitpunkt lanciert wurden, zu dem die UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in China weilte und der amerikanische Präsident in Asien unterwegs war?

Natürlich. Da kann man schon auf die Idee kommen, dass mit den Dokumenten auch bewusst Politik gemacht werden soll.

Das würde aber bedeuten, man hätte die 14 Medienpartner, die an der Veröffentlichung und der Prüfung der sogenannten Police Files beteiligt waren, bewusst instrumentalisiert?

Das ist nicht auszuschließen. Ich würde die Verantwortung aber nicht so sehr bei den Medien suchen, sondern eher bei denjenigen, die die Informationen zum jetzigen Zeitpunkt lanciert haben. Die Medien hatten ja gar keine andere Wahl, als derart heißes und brisantes Material umgehend zu prüfen und in die Öffentlichkeit zu bringen.

Wir sprachen gerade schon über Bidens Besuch in Asien – konkreter in Japan, wo er unter anderem seine militärische Unterstützung für Taiwan unterstrich. Kommen die Dokumente aus Xinjiang den USA hier zugute?

In Sachen Taiwan hat Biden ja nur wiederholt, was er eigentlich schon im letzten Jahr gesagt hat: Schon damals hat er die strategische Ambiguität, also die strategische Zweideutigkeit, abgeräumt. Damit unterscheidet sich Biden von allen seinen Vorgängern bis zurück zu Jimmy Carter. Der sogenannte Taiwan Relations Act ist 1979 auf Initiative des Kongresses erlassen worden und hat die ganze Zeit über eigentlich nur eine Kann-Bestimmung enthalten. Alle amerikanischen Präsidenten haben diese Bestimmung bis dato im Vagen gelassen, um China keine Kalkulationsmöglichkeiten zu geben. Biden aber hat die strategische Ambiguität weggenommen und Xi Jinping somit klar signalisiert: „Wenn du Taiwan angreifst, heißt das, dass du im Krieg mit den Vereinigten Staaten bist.“ Das ist Abschreckung. Man will einen Überraschungseffekt verhindern, den wir im Fall der Ukraine gesehen haben.

Liegt das Augenmerk der Amerikaner somit gar nicht so sehr auf der Ukraine, sondern auf China?

In einer größeren geopolitischen Perspektive muss man ganz klar sagen, dass der Krieg in der Ukraine natürlich ein bedauerlicher, ein tragischer Konflikt ist; dennoch wird das nicht der prägende Konflikt des 21. Jahrhunderts sein. Der wird sich zwischen China und den USA abspielen. In dieser Hinsicht verfolgt Joe Biden eine Politik, die der von Donald Trump in ihrer Aggressivität gegenüber China in nichts nachsteht. Biden versucht, einen indopazifischen Pakt zu schließen und eine Handelszusammenarbeit gegen China auszubauen. Auch wird er nicht müde, China zu kritisieren. Dieser Gegensatz zwischen China und den USA wird unser Jahrhundert bestimmen. Russland als künftiger Juniorpartner Chinas wird da keine große Rolle mehr spielen.

Aber hängen diese Konflikte nicht letztlich zusammen? Sie sagen es ja gerade selbst: Der Krieg in der Ukraine bestimmt auch darüber, ob Russland zukünftig und für immer auf der Seite Pekings stehen wird.

Natürlich sind diese Konflikte geopolitisch stark miteinander verbunden. Aus chinesischer Sicht ist der Ukraine-Krieg eine willkommene Möglichkeit, die sicherheitspolitische Aufmerksamkeit der USA von Ostasien nach Mittel- und Osteuropa zu lenken. Und wenn Sie Russland ansprechen: Das Land wird zu einem leicht einzusammelnden Vasallenstaat Chinas werden. Dazu gibt es vermutlich keine Alternative. Aus chinesischer Sicht ist Russland eine wunderbare Tankstelle – eine mit Atomwaffen zwar, aber letztlich doch eine Tankstelle.

Und was bedeuten diese Gemengelage für Europa?

Wir haben ja immer Bedenken gehabt, dass die Amerikaner uns nicht mehr mögen. Jetzt stellen wir fest, dass, wenn die Amerikaner sich Europa wieder zuwenden, es Krieg auf unserem Kontinent gibt – oder mindestens eine Konfrontation wie im Kalten Krieg. Von Europa aus betrachtet bedeutet die intensivierte Aufmerksamkeit der USA somit eigentlich nichts Positives.

Heißt das nicht letztlich aber, dass Europäer und Amerikaner nicht die gleichen Interessen haben?

Das ist richtig. Eine Eskalation des Krieges in der Ukraine kann – einmal ganz abgesehen vom Schicksal der Menschen in dem Land – nicht im europäischen Interesse sein. Es wäre vielmehr in unserem Interesse, irgendwann auch wieder einen Weg des Umgangs mit Russland zu finden. Noch ist es dafür natürlich viel zu früh. Und vermutlich ist es, solange Putin im Kreml sitzt, auch unmöglich. Früher oder später aber werden wir feststellen, dass Russland noch immer auf dem eurasischen Kontinent liegt. Da ist es gut und wichtig, einen vernünftigen Umgang mit diesem Land zu finden. Im Augenblick ist das ausgeschlossen – auch weil sich der russische Präsident nicht nur der Vernunft, sondern ebenso der Kooperation verweigert. Man muss also auf Zeit spielen. Aber die Zeit wird kommen. Und dann muss  Europa bereit sein, auch mit dem schwierigen Partner Russland eine neue Politik zu definieren.

Warum wird dann in der europäischen Öffentlichkeit momentan so wenig über die unterschiedlichen transatlantischen Interessen gesprochen?

Das ist Selbsttäuschung. Ich denke, man muss das so hart formulieren. Natürlich, momentan sind alle noch überrascht darüber, wie relativ geeint der Westen in der Ukraine reagiert. Wenn man aber genau hinschaut, dann sieht man längst die Risse und Brüche. Denken Sie nur an Ungarn oder an die Türkei. Die unterschiedlichen strategischen Ausrichtungen des Westens werden mehr und mehr deutlich. Vielleicht kann man sie in einem gemeinsamen Feindbild zeitweise überbrücken. Aber das ist nicht von Dauer.

Kehren wir noch einmal zu den Interessen der USA im asiatisch-pazifischen Raum zurück. Gibt es da wirklich Bedarf an einer Eskalation?

Das ist die große Frage. Aus chinesischer Sicht gibt es diesen Bedarf mit Sicherheit nicht. Gelegentlich höre ich aber aus den USA irritierenderweise andere Stimmen. Die kommen besonders aus dem Thinktank-Bereich. Dort wird zuweilen argumentiert, dass es früher oder später ohnehin zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen werde. Also möge sie lieber früher als später kommen. Das klingt für europäische Ohren ziemlich verrückt. In den USA aber wird das als ernstzunehmender Debattenbeitrag wahrgenommen. Als Europäer sitzen wir da derzeit nur auf dem Zaun und beobachten die Lage. Wir haben keinen militärischen Einfluss. Doch wenn es wirklich zu einer Eskalation kommen sollte, wären auch wir von den Folgen unmittelbar betroffen. Insofern muss es europäische Interesse sein, die Vereinigten Staaten dahin zu bringen, den machtpolitischen Wettbewerb mit China friedlich zu lösen.

Die spannende Frage setzt ja schon damit ein, was dezidiert europäische Interessen sind. Europa hat einen bunten Strauß unterschiedlicher Interessen. Und in der Debatte um die Führungsrolle des deutschen Bundeskanzlers kann man bereits ablesen, wie disparat diese Interessen zum Teil sind. Macron ist gerade wiedergewählt worden und kann vor Kraft kaum laufen, Großbritannien ist mit dem Brexit draußen, die Bundesregierung sucht noch nach der eigenen Rolle, und Brüssel wird zwar wahr-, aber nicht immer ernstgenommen. Das ist wieder einmal die Tragik der aktuellen Situation: Europa spricht nicht mit einer Stimme.

Das Gespräch führte Ralf Hanselle.

Quelle: Cicero (27 Mai 2022)